von: Deutsch-Grundkurs Q1 mit Fachlehrerin Frau Götz und Referendar Herrn Elkmann

Am 28.5.2024 besuchten wir mit unserem Deutsch-Grundkurs von Frau Götz die Inszenierung von Woyzeck im Wolfgang-Borchert-Theater Münster.

Die Inszenierung von Tanja Weidner beruht auf dem Dramenfragment „Woyzeck“ geschrieben von Georg Büchner im Jahr 1836. Es kritisiert die zur Zeit des Vormärz bestehende Klassengesellschaft, welche von sozialen Ungleichheiten geprägt ist. Diese wird von der historischen Figur Woyzeck verkörpert, welche als einfacher Soldat die Probleme der Unterschicht vertritt. Er wird von allen in seiner Umgebung missachtet und ausgenutzt. Dieser Druck, die zunehmende psychische Belastung und ein Menschenexperiment, das der Doktor an ihm vornimmt, resultieren in Halluzinationen, die ihn zum Mord an seiner Freundin Marie verleiten.

Gleich zu Beginn sitzen die Zuschauer in völliger Dunkelheit im Publikumsraum. Die Sicht auf die Bühne ist durch ein dünnes, durchsichtiges Netz getrübt, vergleichbar mit einer Nebelwand. Die verschiedenen Lieder und Geräusche am Anfang der Szene, die gleichzeitig und übereinandergelegt zu hören sind sowie der Netzvorhang verdeutlichen Woyzecks Zustand und geistige Verwirrung: Er hört Stimmen und hat Halluzinationen. Dies hat einen guten Effekt und ist gelungen in Szene gesetzt, da dem Zuschauer Woyzecks geistige Verwirrung schnell deutlich wird.

Das Netz hebt sich und die Sicht wird klarer, gibt das Bühnenbild frei. Dieses besteht aus drei Bretterwippen, die im Vordergrund hängen und vielen sich bewegenden Planken im Hintergrund. Mit den schwankenden Wippen werden die Machtverhältnisse zwischen den Figuren verdeutlicht, aber auch die Instabilität und Ungleichheit in der Gesellschaft. Woyzeck gerät immer mehr aus der Balance und so wie die Bretter sich bewegen und wackeln, ist auch Woyzecks Leben instabil. Annette Wolf hat mit dieser Kulisse einen tollen Effekt geschaffen, der optisch, aber auch akustisch zum Tragen kommt. Die Bretter krachen mit lautem Knallen aufeinander oder auf den Boden. Das hat uns erschreckt, aber auch emotionalisiert. Dem plötzlichen Lärm der Bretter folgte dann auch noch das laute Trommeln des Tambourmajors, das seine Maskulinität und Überlegenheit gegenüber Woyzeck verdeutlichen sollte. Woyzecks Unterlegenheit zeigte sich aber nicht nur im Vergleich zu seinem Widersacher und Nebenbuhler, sondern auch in der Inszenierung der Figur des Doktors. Dieser untersucht Woyzeck, der kopfüber auf einem Brett liegt. Das löst Assoziationen aus, die an eine Streckbank erinnern, eine mittelalterliche Foltermethode. Der Doktor befindet sich als Mächtiger erhöht, während der schwächere Woyzeck unter ihm steht oder liegt. So verkörpern die Positionen der Figuren auf den Brettern Woyzecks Instabilität sowohl im Hinblick auf seine finanzielle als auch soziale Situation.

Ein weiterer, auffallender Aspekt war, dass Woyzeck von einer Frau, Erika Jell, gespielt wurde. Marie, der Doktor und der Hauptmann sprechen Woyzeck im Stück mit verschiedenen Pronomen an. Der Doktor spricht Woyzeck immer mit „Es“ an, was zeigt, dass dieser Woyzeck wie ein Objekt behandelt. Marie spricht den Vater ihres Kindes mit „Er“ an, da er für Marie „der Mann des Hauses ist“ und Woyzeck alles tut, um für Marie und seinen Sohn finanziell zu sorgen. Der Hauptmann dagegen benutzt das Pronomen „Sie“ für Woyzeck. Dies tut er, weil Woyzeck für ihn eine „schwache“ Person ist, was in der Gesellschaft zu Büchners Zeit eher die Frau war. Die Verwendung der verschiedenen Pronomen ist im Dramenfragment so nicht zu finden, jedoch finden wir es sehr gelungen. Es gibt der Inszenierung einen sehr aktuellen und modernen Impuls, da das Geschlecht, welches Woyzeck im Stück einnimmt, nicht eindeutig zu bestimmen ist.

Auch die Jahrmarktsszene ist nicht werkgetreu, da Woyzeck kein Zuschauer ist, wie im Originaltext, sondern als Affe verkleidet das Publikum unterhalten muss. Er macht sich also sprichwörtlich „zum Affen“ und verkauft für geringe Entlohnung seine Würde.

Auch die Schlussszene wurde abgewandelt, da Woyzeck Selbstmord begeht und seine Organe verkauft werden. Diese Anspielung auf die Problematik der Organausbeutung armer Menschen in Entwicklungsländern macht die Aufführung modern und bindet das fast 200 Jahre alte Thema an aktuelle Themen an, was verdeutlicht, dass Probleme des 19. Jahrhunderts auch heute noch in veränderter Form aktuell sind. Diese moderne Reflexion macht uns Büchners Kritik auf heutige Themen bezogen greifbarer.

Insgesamt finden wir die Aufführung vom „Woyzeck“ aus dem Wolfgang-Borchert-Theater gelungen, da wir der Ansicht sind, dass die verschiedenen Machtverhältnisse sehr gut deutlich geworden sind. Die moderne Interpretation hat Interpretationsspielräume genutzt, blieb aber insgesamt nah am Originaltext Büchners und die darstellerische Leistung hat uns sehr beeindruckt.

Das Dramenfragment von 1836 wurde so inszeniert, dass es auch heute noch als aktueller Aufruf verstanden werden kann, gesellschaftliche Ungerechtigkeiten in der Welt sichtbar zu machen.