aus: WN – 06.03.2024 – von Doerthe Rayen
Am Ende gab es stehende Ovationen und einen nicht enden wollenden Applaus. Die Jugendlichen auf der Bühne im Festsaal des münsterischen Rathauses strahlten mit ihren Lehrerinnen um die Wette. Die Vorstellung ihres Reisetagebuchs über das Projekt „Koffer packen für Tommy“ hatte die Festgesellschaft, die auf Einladung der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit ins Rathaus gekommen war, mehr als beeindruckt. Als Anerkennung und große Wertschätzung wurde die Klasse 9d des Annette-Gymnasiums mit dem Dr.-Julius-Voos-Preis ausgezeichnet.
In seiner Laudatio beglückwünschte Martin Mustroph als evangelischer Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit die Jugendlichen zu ihrem „informativen, bewegenden und hinreißenden Vortrag“, den neun Schülerinnen und Schüler stellvertretend für die Klassengemeinschaft gehalten hatten. Sie erzählten von ihrem Projekt, das im Januar 2023 gestartet war.
Die Jugendlichen tauchten damals begleitet von Geschichtslehrerin Sabrina Hamidi und Deutschlehrerin Julia Götz in die Geschichte der Familie Fritta-Haas ein. Konkret ging es um den kleinen Tommy, der 1941 mit seinen jüdischen Eltern Bedrich und Johanna von den Nationalsozialisten ins Ghetto Theresienstadt deportiert wurde. Die Familie musste damals einen Koffer packen. Die Jugendlichen fragten sich 82 Jahre später: Was würden wir mitnehmen auf eine Reise, von der wir nicht wissen, wohin sie führt und wie lange sie dauert?
Anhand eines Bilderbuchs, das Bedrich Fritta in Theresienstadt für seinen Sohn gezeichnet hatte, lernten die Annette-Schüler die Familie kennen. Doch das genügte den Jugendlichen nicht. Sie wollten mehr wissen. „Als wir mit dem Projekt angefangen haben, kannten wir nur wenige Begriffe zur NS-Zeit. Jetzt wissen wir viel mehr“, erklärten sie im Rathaus. Sie schrieben einen fiktiven Brief an Tommy und fragten sich, wie es ihm wohl ergangen sei, nachdem seine Eltern den Holocaust nicht überlebt hatten und er von dem befreundeten Ehepaar Haas adoptiert worden war.
Die Klasse stellte Öffentlichkeit her, diese Zeitung berichtete. Und dann kam der Stein ins Rollen. Tommys Sohn David Fritta-Haas wurde aufmerksam und nahm Kontakt auf. Es kam zu einem ersten Treffen in Münster, dann zu einer Reise nach Prag und Theresienstadt – auf den Spuren von Tommy und seinen Eltern. Wie emotional, wie aufwühlend, wie folgenreich diese Reise für die Jugendlichen geworden ist, davon konnten sich die Gäste der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit ein Bild machen.
Die 9d erzählte von ihren Erlebnissen. Von ihrer Traurigkeit. Von dem Unverständnis über das, was Menschen anderen Menschen angetan haben. Und sie zogen ein Fazit: Die NS-Zeit dürfe sich nie wiederholen. Besuche in Gedenkstätten wie Theresienstadt seien wertvoll. „Der Schmerz und das Leiden der Menschen ist dort spürbar.
Die authentische und tief emotionale Erinnerungsarbeit der Annette-Schüler ging den Zuhörern zu Herzen. Martin Mustroph bezeichnete die Jugendlichen als „Zweitzeugen, die allen in der Gesellschaft Hoffnung geben“. Er lobte das Annette-Gymnasium für seine außerordentliche Geschichts-Arbeit. „Ich beneide Euch“, wandte er sich an die Klasse, „für diesen Unterricht“. An der Schule habe Erinnerungskultur Tradition.
Der Dr.-Julius-Voos-Preis wird seit 2014 von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit für besonders Engagement für Demokratie, Toleranz und Menschenwürde vergeben. Dr. Julius Voos war der letzte münsterische Rabbiner vor dem Zweiten Weltkrieg. 1943 wurde er ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert, wo er ein Jahr später starb. Ziel des Preises ist es, junge Menschen für ihre Beschäftigung mit christlich-jüdischen Themen zu ehren. Das Annette-Gymnasium hat den Preis nach 2019 nun zum zweiten Mal erhalten. Das Annette-Gymnasium engagiert sich im Bereich der Erinnerungskultur. Das Gymnasium ist Partnerschule der Internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.
Wie sehr die Reise die Schülerinnen und Schüler verändert hat, beobachten insbesondere die Eltern. „Unsere Kinder sind reifer geworden. Die Klasse ist zusammengewachsen. Ich spüre nachhaltige Veränderungen“, sagte Diana Welchering, Mutter eines Schülers. Aber auch von außen haben Gäste diese Veränderung wahrgenommen. Anna Stöckmann von der Jüdischen Gemeinde war zu Gast im Annette-Gymnasium, als David Fritta-Haas dort mit den Jugendlichen sein Gespräch führte. „Das war beeindruckend. Doch jetzt sehe ich, wie sehr die Reise die Jugendlichen geprägt hat“. Das Thema habe durch die intensive Beschäftigung Wurzeln geschlagen. „Ich habe Respekt vor den Lehrerinnen und Eltern, die diese Reise ermöglicht und begleitet haben.“
Für Wolfhart Beck, Teil des Schulleitungs-Teams am Annette-Gymnasium, liegt der Erfolg des Projektes nicht nur darin begründet, dass die Klasse sich mit dem Nationalsozialismus auf sachlicher Ebene auseinandergesetzt habe. Fakten, Folgen, Ursachen seien das eine. Die Klassen habe sich aber auch künstlerisch-literarisch und persönlich dem Thema genähert. „Sie waren mit allen Sinnen dabei – hören, fühlen, sehen.“ Und mit ganz viel Herz.