von: Doerthe Rayen-Schilling (Text und Fotos)
aus: WN – Abendausgabe – 03.09.2023

Dass diese Fahrt nach Prag und Theresienstadt außergewöhnlich werden sollte, das haben alle Beteiligten geahnt. Die Klasse 9d des Annette-Gymnasiums hatte vor der Reise viele Fragen – und nun –Antworten an authentischen Orten erhalten.

Der Freitagmorgen begann zunächst historisch – mit dem stellvertretenden Leiter der Gedenkstätte Theresienstadt, Vojtech Blodig. Der Historiker nahm sich Zeit für die Reisegruppe aus Münster und führte sie persönlich durch das Museum, das in der früheren Schule von Theresienstadt eine Heimat gefunden hat. Der 76-jährige Historiker schilderte einfühlsam, wie die Juden von den Nazis nach Theresienstadt deportiert wurden. Die jüdische Selbstverwaltung sei bemüht gewesen, den Mädchen und Jungen – so weit das überhaupt ging – unbeschwerte Tage zu bereiten.

Sie waren oft von ihren Eltern getrennt, lebten in Mädchen- und Jungenkinderheimen. Über 4000 Bilder sind zwischen den Jahren 1941 und 1944 von Kindern im Ghetto gemalt worden. Schneewittchen, ein Weihnachtsbaum, Szenen aus dem Ghetto-Alltag – die Annette-Schüler schauten sich die Bilder im Museum an. Und waren bewegt. Dass die Nazis Theresienstadt als Muster-Ghetto bezeichnet hatten – den Jugendlichen kam das vor Ort absurd vor.

Dann kam Antons Moment. Zwischen zwei roten Leucht-Linien, die im Museumsboden symbolisch für die Bahngleise stehen, über die die Juden während der Herrschaft der Nazis in Konzentrationslager befördert wurden, spielte der 14-Jährige Violine. Auf eine wunderbar bezaubernde Art, die der traurigen und beklemmenden Thematik des Tages ein bisschen von ihrer Schwere nahm. Seine Mitschüler lauschten angetan. Der stellvertretende Leiter der Gedenkstätte war sprachlos. Als dann noch ein Freund David Fritta-Haas‘ seine Klarinette auspackte und mit Anton gemeinsam Musik machte, stockte Schülern und Erwachsenen der Atem. Vojtech Blodig sagte später, dass er in dem Museum noch niemals zuvor so etwas Bewegendes erlebt habe.

Die Jugendlichen und das begleitenden Lehrer-Team mit Sabrina Hamidi, Julia Götz und Philipp Marstall hatte die Reise nach Prag und Theresienstadt seit Monaten vorbereitet. Die Schülerinnen und Schüler hatten sich intensiv mit dem Ghetto und späteren Konzentrationslager beschäftigt. Durch das Bilderbuch „Für Tommy zu seinem dritten Geburtstag“ war die Klasse 9d in die Familiengeschichte der Fritta-Haas eingetaucht. Jetzt standen sie mit Tommys Sohn genau dort, wo das Bilderbuch entstanden ist.

Sie schauten sich an, wo Tommys Vater Bedrich Fritta mit weiteren Künstlern Aufträge für die SS erledigen musste. Mit einem Kloß im Hals besichtigten sie eine winzige Wohnung, in der jüdische Familien untergebracht waren. David Fritta-Haas schaltete sich beim Rundgang immer wieder ein, erzählte von seinem Opa Bedrich und den Erinnerungen, die sein eigener Vater Tommy an die Holocaust-Zeit mit ihm und seinen Geschwistern geteilt hatte. „Ich fühle mich ein bisschen wie Tommy“, kommentierte einer der Jungen.

Nach der Mittagspause ging es für die Neuntklässler dann von Terezin eine Station weiter zur sogenannten Kleinen Festung. Das Gefängnis nutzte die Gestapo vorwiegend für politische Häftlinge. Zu denen zählten auch die Familien Fritta-Haas. Beklemmende Momente waren das: Die Jugendlichen standen in der Zelle, in der Bedrich Fritta und sein Freund Leo Haas eingekerkert waren. Sie waren dort, wo Tommy einst mit seiner Mutter auf winzigem Raum hockte. „Ich konnte mich sofort in die Lage der Häftlinge hineinversetzen“, sagte Mariam wieder unter freiem Himmel. Julian war zutiefst berührt. „Das ist alles emotional und schon anstrengend.“ Surreal fand Linda die Kleine Festung. Drinnen seien Gräueltaten ausgeübt worden, draußen blühten Rosen.

Dass die Fahrt anspruchsvoll und außergewöhnlich sei, das war den Lehrern schon in Münster klar. Nach dem Freitag wissen sie: Die Spurensuche geht für alle weiter. „Wir tragen Tommys Geschichte weiter“, steht für Sabrina Hamidi fest. Sie seien noch tiefer in die Thematik eingestiegen. „Das geht uns allen unter die Haut. Wir haben Antworten auf viele unserer Fragen bekommen. Aber es stellen sich auch neue Fragen“, bilanzierte Julia Götz. Wie gut, dass Anton seine Violine dabei hatte. Die Schülerinnen und Schüler werden immer, wenn über Theresienstadt gesprochen wird, auch an seine berührende Bachsonate denken.